In Harper County, einem verschlafenen Landstrich im Süden des US-Bundesstaats Kansas, wird gerade Geschichte geschrieben. An Dutzenden Stellen wird das Erdreich angebohrt, allein in den vergangenen zwölf Monaten sind 1000 neue und gut bezahlte Jobs entstanden, gleichzeitig explodieren die Immobilienpreise. Die landwirtschaftlich geprägte Region mit ihren 6000 Einwohnern erlebt einen Ölboom, der die gesamten Vereinigten Staaten erfasst hat und die globale Energiebranche neu ordnen wird. Auslöser ist die Fördertechnik Hydraulic Fracturing, kurz Fracking genannt. Mit ihrer Hilfe zapfen Unternehmen bisher ungenutzte Öl- und Gasreserven an. Anders als bei den konventionellen Fördermethoden werden die Rohstoffe dabei nicht nur aus der Tiefe gepumpt, sondern zuvor mit Wasser, Chemikalien und Sand aus Schiefer- oder Sandsteinschichten gelöst. Dank Fracking werden die USA in wenigen Jahren zur neuen Supermacht in der Öl- und Gasförderung aufgestiegen sein. So lautet das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Studie der Internationalen Energieagentur (IEA).

Schub für die Wirtschaft
Es kommt noch besser: Die USA werden 2017 sogar den Spitzenreiter Saudi-Arabien in der Ölproduktion übertrumpfen — und zudem Russland 2015 als größten Gasproduzenten der Welt ablösen. 2035 dürfte die größte Volkswirtschaft der Welt, die bis dato stark von Energieimporten abhängig ist, nicht nur autark sein, sondern auch als wichtiger Gas- und Ölexporteur den Markt aufmischen. So werden die Karten im Billionen US-Dollar schweren Spiel um den Schmierstoff der Weltwirtschaft neu gemischt. „Diese weitreichende Umstellung wird alle Regionen der Welt betreffen,“ erklärt Maria van der Hoeven, Executive Director IEA. Unter anderem könnte die jahrzehntelange Abhängigkeit der US-Energieversorgung von den instabilen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens dann der Vergangenheit angehören. Tritt dies ein, würde der Einfluss der OPEC auf den Ölpreis in den kommenden Jahrzehnten erheblich nachlassen.

Dabei haben gerade die Ölscheichs mit ihrer Preispolitik Fracking indirekt zum Erfolg verholfen. Die Technik ist nicht neu: Schon nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ähnliche Verfahren eingesetzt. Doch erst seit Anfang dieses Jahrtausends gewinnt die kostspielige Methode wieder an Bedeutung. Kein Zufall, sind doch die Energiepreise förmlich explodiert. Kostete ein Barrel Öl (159 Liter) Anfang 2000 gerade einmal 30 US-US-Dollar, musste 2008 das Vierfache dafür berappt werden. Auch bei Weltmarktpreisen von aktuell rund 90 US-Dollar für die US-Sorte WTI lohnt es sich, mit Fracking möglichst viele Barrel aus der Erde zu holen. Die Produktionskosten liegen nur zwischen 40 und 60 US-Dollar. Die Fördermengen, die derzeit bei 750 000 Barrel liegen, wachsen deshalb zweistellig. Für die USA sind die neuen Energiequellen ein willkommenes Konjunkturprogramm, das der Wirtschaft bis 2020 ein Plus von zwei bis drei Prozent bescheren könnte. Schon heute hängen 1,7 Millionen Arbeitsplätze direkt und indirekt am Fracking. Bis 2035 könnte sich diese Zahl mehr als verdoppeln. Weiterer Pluspunkt: Dank der Öl- und Gasschwemme dürfte der Anstieg der Energiepreise in den Vereinigten Staaten kräftig gebremst werden. Erste Anzeichen gibt es: So hat sich der Abstand zwischen der Notierung der US-Sorte WTI und der Nordseesorte Brent zuletzt ausgeweitet. Und niedrigere Öl- und Gaspreise sind ein Standortvorteil für energieintensive Unternehmen etwa aus der Chemiebranche, die ihre Produktion in die Vereinigten Staaten verlegen könnten. Das zusätzliche Angebot wird auch die Notierungen am Weltmarkt beeinflussen. Bis zu 16 Prozent geringer als bisher angenommen könnte den Preisanstieg bis 2020 ausfallen, sollten die zusätzlich geförderten Mengen aus den USA auf den Markt kommen, errechnete die Citigroup. Und die IEA geht davon aus, dass der Ölpreis bis 2035 inflationsbereinigt nur auf 125 US-Dollar steigen wird. Das Thema Peak Oil, das auf der Annahme stetig abnehmender Fördermengen und drastisch steigender Preise fußt, „dürfte angesichts des technischen Fortschritts erst einmal vom Tisch sein“, sagt Daniel Würmli, Fondsmanager des Swisscanto Selection Energy.

Gewinne für Pipelinebetreiber
Dabei sind die großen US-Ölkonzerne nicht automatisch die großen Gewinner des Booms. Zum einen dürften neue Sicherheitsbestimmungen für das Fracking die Förderkosten noch erhöhen. Zum anderen fehlen in den USA bis jetzt Kapazitäten, um die zusätzlich geförderten Mengen zu den Raffinerien zu transportieren. Pipelinebetreiber und Eisenbahnen verdienen sich daher mit Öllieferungen eine goldene Nase. Noch geben vor allem kleine Ölförderer beim Thema Fracking den Ton an, Exxon und Chevron steigen erst langsam ins Geschäft ein. „Hier erwarte ich allerdings eine Konsolidierung des Sektors, indem große Produzenten die kleinen übernehmen“, sagt Würmli. Im Gasbereich ist Exxon weiter, da der Konzern vor zwei Jahren den Gasproduzenten XTO für 41 Milliarden US-Dollar geschluckt hat. Eine Wette auf hohe Shale-Gasreserven in den USA. Die sind vorhanden. Schiefergas macht 25 Prozent der gesamten US-Gasförderung aus — mit steigender Tendenz. 2035 müssen die USA laut IEA kein Gas mehr importieren. Der Anteil an Schiefergas an der Förderung soll dann 50 Prozent betragen. Zusammen mit Tight Gas, das aus tieferen Sandsteinschichten ebenfalls durch Fracking gewonnen wird, dürfte unkonventionelles Gas (aus Schiefer und Sandstein) drei Viertel der US-Förderung abdecken.

Vor zehn Jahren begannen die USA, den flüchtigen Rohstoff abzubauen. Inzwischen ist ein Boom entstanden, der zahlreiche Jobs geschaffen hat. Das Überangebot ließ die Preise dramatisch einbrechen. Seit 2008 fiel der Gaspreis von 13 auf vier US-Dollar je MMBTU (übliche Energiemaßeinheit für Gas). Das hat Folgen. Viele Unternehmen produzieren nicht kostendeckend, was zu einer Übernahmewelle führt. Öl- und Gasmultis, die auf viel Cash sitzen, übernehmen finanzschwache Firmen. Zudem drosseln einige Förderer die Produktion, um das Gasangebot zu verknappen. Mit Erfolg: Seit April verdoppelte sich der Gaspreis. Viele Amerikaner haben ihre Heizung von Öl oder Kohle auf Gas umgestellt. Kohleproduzenten haben bereits Probleme, ihre Ware am heimischen Markt zu verkaufen, da sie mit dem billigen Gas nicht konkurrieren kann. Sie suchen sich andere Absatzmärkte, vor allem in Europa. „Der Kauf von billiger US-Kohle in großem Stil verschlechtert Europas Klimabilanz erheblich“, sagt Ingo Kapp, Physiker beim Potsdamer Geoforschungszentrum.

Auch sonst wird das Fracking Spuren in Europa hinterlassen. Einige Staaten auf dem alten Kontinent besitzen üppige Vorräte an unkonventionellem Gas und sind bestrebt, es zu fördern. Schon weil sie unabhängiger von Russland und dem Staatskonzern Gazprom werden wollen. Zudem ist der Gaspreis in Europa zwei bis dreimal so hoch wie in den USA. Indem sie selbst fördern, hoffen die Europäer, billiger an den Rohstoff zu kommen. Die größten Reserven haben Polen, Frankreich, Norwegen, die Ukraine und Schweden. Deutschland verfügt zwar nur über geschätzte 1,3 Billionen Kubikmeter Schiefergasressourcen, könnte seinen Jahresbedarf damit aber trotzdem mehrfach decken. Zudem sind die Reserven höher als beim konventionellen Gas. Deutschland produziert 14 Prozent des verbrauchten Gases selbst, der Anteil sinkt aber kontinuierlich. „Schiefergas könnte helfen, den Rückgang der Eigenproduktion auszugleichen“, sagt Jürgen Messner, Geologe bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften in Hannover.

Skeptische Bürger
Die Förderpläne liegen hierzulande jedoch auf Eis. Nicht einmal probeweise wird gebohrt. Bürgerinitiativen machen Front gegen die Risiken des Frackings. Vor allem die Sorge um das Trinkwasser treibt Anrainer um. „Deutschland ist derzeit im Diskussionsstadium“, sagt Kapp. So wie es aussieht, wird Nordrhein-Westfalen das Fracking nicht erlauben. Niedersachsen, wo ebenfalls große Reserven lagern, hat sich noch nicht entschieden. Während hierzulande noch gestritten wird, haben andere europäische Länder bereits Moratorien verhängt. Dazu zählen Frankreich, Österreich, Rumänien und Bulgarien. Schweden, Dänemark, Großbritannien und die Ukraine stehen der Förderung dagegen offener gegenüber. Dort werden Probebohrungen durchgeführt, und die Bevölkerung ist nicht so skeptisch. Ähnlich wie in Polen, das die höchsten Reserven Europas besitzt. Die Hoffnungen, dass der Ostseestaat ein zweites Norwegen wird, sind allerdings verflogen. Das polnische geologische Institut nahm die optimistischen Schätzungen der IEA aus dem Vorjahr um bis zu 90 Prozent zurück. „Polens Regierung ist trotzdem die einzige in Europa, die alles tut, damit Schiefergas ein Erfolg wird“, sagt Teresa Schinwald, Versorgeranalystin bei der Raiffeisen Centrobank. Ein staatsnahes Firmenkonsortium wurde vor Kurzem gebildet und mit ausreichend Eigenkapital ausgestattet. Zudem vergab die Politik schon Dutzende von Förderkonzessionen. Experten schätzen, dass 2015 das erste Gas strömt.

Risikobereite Anleger können sich die Aktie von PGNiG ins Depot legen. Der an der Warschauer Börse notierte Gasversorger besitzt die meisten Bohrrechte und würde vom Schiefergasboom profitieren. Da polnischen Firmen sonst aber das Fachwissen fehlt, sind die Gewinner meist US-Firmen wie Chevron, Conoco-Phillips oder Chesapeake. Über Joint Ventures zapft Polen deren Know-how an. Das ist im übrigen Europa ebenso. Dort schaut man auf Polen. Gelingt dort die Förderung, dürften andere Staaten nachziehen. Doch selbst wenn die Rechnung der Regierung in Warschau aufgeht und reichlich Schiefergas aus dem Boden geholt wird, stellt sich das Problem, wie es in andere europäische Länder geliefert wird. Denn die Kapazitäten der Jamal-Pipeline, der einzigen Gaspipeline von Polen nach Europa, darf das Land nur zur Hälfte nutzen. Die anderen 50 Prozent gehören Gazprom. Der Konzern wird wohl kaum zugunsten des Schiefergases auf seinen Anspruch verzichten. Die Russen beobachten die Schiefergasprojekte in ihrem Hauptabsatzmarkt Europa mit Unbehagen, sind doch Preise und Lieferverträge bisher an den Ölpreis gekoppelt, was die Gaspreise in Europa nach oben treibt. Diesen komfortablen Zustand möchten die Russen gern erhalten. Zudem hängt der alte Kontinent bislang am russischen Gastropf, was sicher im geopolitischen Interesse Putins ist. Auch sonst spricht vieles dafür, dass in Europa kein Schiefergasboom wie in den USA entsteht. „Das hat mehrere Gründe“, sagt Harald Andruleit, Experte für Energierohstoffe an der Bundesanstalt für Geowissenschaften. „Die Auflagen sind strikter, und die Bevölkerungsdichte ist höher als in den USA. Die Amerikaner haben auch Glück mit der geologischen Beschaffenheit ihrer Reserven. Das Schiefergas ist dort bereits heute wirtschaftlich zu fördern“, sagt er. Schiefergas wird also in Europa teurer als in den USA sein, selbst wenn es reichlich aus dem Boden kommt. Mehr Druck auf den Preis würde es auslösen, wenn die Amerikaner ihre bestehenden Gasimport- zu Exportterminals umrüsten und den flüchtigen Rohstoff nach Europa ausführen. Das dürfte aber frühestens 2017 der Fall sein. Preise wie in den USA wird es trotzdem nicht geben, da die Verflüssigung und der Transport teuer sind. Dennoch würde die Einfuhr von US-Flüssiggas und die Förderung von eigenem Schiefergas wohl dazu führen, dass die Gaspreise in Europa purzeln. Wenig erstaunlich also, dass Gazprom sich bei der EU als Umweltschützer aufspielt und jede Gelegenheit nutzt, auf die Risiken von Schiefergas hinzuweisen. Dabei haben die Russen einen wichtigen Verbündeten: den Emir von Katar, der ebenfalls auf üppigen Gasvorkommen sitzt.