FondsDISCOUNT.de: Herr Scharping, die Kursexzesse um den Videospielehändler Gamestop haben sich wieder etwas beruhigt, kurz danach schwenkten die reddit-User aber auf Cannabis-Werte um. Müssen wir uns an solche Flashmobs an der Börse gewöhnen? Und wie bewerten Sie diese Vorgänge?


Oliver Scharping: Zweifelsohne ist die aktuelle Marktphase extrem aggressiv und was sich auf der Privatanlegerseite vor allem in den USA abspielt gibt durchaus zu denken. Gamestop war ein Extrembeispiel, das sich so nicht wiederholen sollte, aber es ist klar: der Privatanleger ist nach jahrelanger Absenz wieder mit einem spektakulären Comeback zurück am Aktienmarkt und nun auch dazu bereit, nie dagewesene Risiken einzugehen. Dank neuer Technologie und einfacherer Nutzeroberflächen handeln auch Privatanleger im großen Stil Derivate wie Call-Optionen oder kaufen Aktien auf Marge. Ein derart hysterisch-spekulatives Anlegerverhalten hatten wir zuletzt teilweise während der Dotcom-Blase gesehen, auch wenn die »Yolo-Mentalität« damals noch nicht derart die Anlageentscheidungen dominierte.


Auch unabhängig von diesen über soziale Netzwerke angeheizte Kurse lassen sich mittlerweile zum Beispiel im Technologie-Sektor hohe Bewertungsniveaus erkennen. Kann man hier schon von einer Blasenbildung sprechen?


Das verlässlichste Merkmal des späten Stadiums einer Blase war in der Geschichte des Aktienmarktes stets ein euphorisches, teils verrücktes Verhalten der Anleger – vor allem der Privatanleger. In den ersten zehn Jahren des aktuellen Bullenmarktes fehlte eine solche Phase der wilden, ungezügelten Spekulation. Das heißt nicht zwingend, dass wir aktuell vor dem Platzen einer Blase stehen. Aber diese Tendenz zu einer Manie zieht mehr und mehr in bestimmte Teilbereiche des Aktienmarktes ein und viele der »Lieblingsaktien« der Privatanleger finden sich eben gerade im Technologiebereich, vor allem wenn sie auch einen festen Platz im täglichen Leben haben. Die Bewertungen in vielen Technologie-Teilbereichen sind dabei mitunter angespannt und Euphorie- bzw. Sentiment Indikatoren leuchten seit Wochen in immer tieferen Rot auf. Manche Unternehmen handeln dabei aber zu Recht zu einem Bewertungspremium, gerade wenn einschlägige Wettbewerbsvorteile (Amazon) oder Quasi-Monopole bestehen (Alphabet) bzw. eine hohe Innovationskraft und enormes Disruptionspotenzial bestehen (Square oder Teladoc). Etwas bedenklich stimmt uns vor allem die rasant steigende Anzahl stark-unprofitabler Technologieunternehmen, von denen aktuell viele mit nicht viel mehr als einer Vision an die Börse kommen (z.B. Nikola) und oft bereits von Tag 1 an und ohne Umsatz & Co. eine mehrstellige Milliardenbewertung aufrufen.


Was sind Ihrer Einschätzung nach die Gründe, dass der Aktienmarkt in Teilen heiß gelaufen ist?


Der Hang zu Blasenbildungen liegt tief in der menschlichen Natur verankert. Denn die menschliche Psyche und unsere kognitiven Anreizsysteme arbeiten systematisch darauf hin, Anleger immer weiter in eine mögliche Blase hinein zu saugen. Gerade wenn Zinsen zusätzlich niedrig sind, haben wir dann oft die idealen Rahmenbedingungen, um Vermögensblasen zu fördern.


Euphorie ist an der Börse meist kein guter Ratgeber. Gab es historisch betrachtet Beispiele, die mit der aktuellen Situation vergleichbar sind und aus denen man jetzt lernen könnte?


Als ich das Glück hatte, Warren Buffett vor ein paar Jahren in kleiner Gruppe persönlich zu treffen, erzählte er mahnend von der Zeit der so genannten »Nifty Fiftys«, einer Bewertungsblase bei Blue-Chip Wachstumswerten in den 1970er Jahren. Je länger der aktuelle Bullenmarkt andauert, desto mehr Gemeinsamkeiten lassen sich hier in manchen Teilbereichen erkennen, allerdings im Unterschied zu den 1970ern – wie eben beschrieben – zusätzlich gespickt mit manischen Auszügen aus der DotCom-Blase und einer nicht unkritischen Verschiebung der Privatanlegeraktivität von Aktien zu Call-Optionen, oft sogar mit geliehenem Geld finanziert.


Und wie sollten sich Anleger verhalten? Bei einer Rallye will schließlich jeder dabei sein….


Und das sollten sie prinzipiell ja auch. Die Erfahrung zeigt, dass aus dem Markt fernzubleiben eine sehr teure Alternative sein kann. Denn extreme Phasen können bekanntlich noch extremer werden, Bewertungen und Fundamentaldaten können für gefühlte Ewigkeiten auseinanderklaffen. Und der post-Corona Aufschwung sollte ja auch die Anlageklasse Aktien an sich langfristig weiter beflügeln. Das richtige Timing vor einer größeren Korrektur der exzessiven Bewertungen zu erwischen, wäre allerdings reine Glückssache. Die Seitenlinie ist also auch nicht die richtige Alternative. Die Frage ist vielmehr, ob man bei der Rallye unbedingt gefährlich nah am Abgrund fahren muss oder ob es eine weniger riskante Alternativroute gibt.


Welche Ausweichmöglichkeiten gibt es, auf welche Titel oder Sektoren sollte man sich Ihrer Meinung nach abseits der Massenbewegungen jetzt besser konzentrieren?


Generell sollte sich der Anleger am übergeordneten Konjunkturtrend orientieren. Solange die Weltwirtschaft anzieht, dürfte auch der Boom am Aktienmarkt anhalten. Erst wenn die konjunkturelle Dynamik an Kraft verliert, ist zunehmend Vorsicht geboten. Dann lassen die positiven Nachrichten bezüglich Lockdowns und Impffortschritt nach und die Aktienmärkte geraten womöglich unter Druck. Dies könnte bereits ab Ende 2021 der Fall sein. Hinzu kommt, dass die Geldpolitik mit der Normalisierung der Wirtschaftslage allmählich den Fuß vom Gaspedal nehmen wird. Damit droht ein Liquiditätsentzug an den Märkten.


Es gibt zum Glück noch viele Bereiche und Nischen abseits der Massenbewegungen und reddit-Lieblinge, in denen die Lage weitaus weniger angespannt ist: Klassische Value-Aktien beispielsweise hatten relativ gesehen vor der Coronavirus-Pandemie ihr bislang schlechtestes Jahrzehnt. Und 2020 war ein weiteres Negativrekordjahr: Die relative Differenz zwischen Wachstums- und Value-Aktienperformance betrug mehr als 20%-Punkte. Attraktive Aktien, die ohne Bewertungsexzesse auskommen und teils sogar mit attraktiven Dividendenrenditen glänzen, sind zum Beispiel Roche, Deutsche Telekom, British American Tobacco und Glencore. Unterschieden werden müssen diese Titel allerdings von den scheinbaren Value-Aktien. Denn Unternehmen in Sektoren wie Kreuzfahrt, Flugverkehr oder Hotellerie mögen zwar auf dem Papier gerade günstig erscheinen und haben möglicherweise enormes Aufholpotenzial. Allerdings besteht ebenso die Gefahr, dass manche dieser Unternehmen permanent durch die Coronavirus-Pandemie disruptiert bleiben. Auch im Bereich der vom breiten Aktienmarkt weniger abhängigen Sondersituationen bieten sich mitunter noch attraktive Risiko-Ertrags-Verhältnisse, fernab der angesprochenen Exzesse. Dort sind unter anderem scheinbar langweilige Aktien wie Suez, 2MX Organic und Rocket Internet sehr attraktiv, und auch so genannte Garantiedividendenwerte wie Kabel Deutschland und Osram können Anlegern Schutz bieten, sollten wir uns wirklich bereits nahe am Höhepunkt einer Blase bei den Lieblingswerten der US-Kleinanleger befinden.


Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen, Herr Scharping!