FondsDISCOUNT.de: Herr Dr. Bayaz, Sie sind Obmann im Untersuchungsausschuss zum Wirecard-Skandal, der sich immer mehr als filmreifer Wirtschaftskrimi inklusive internationaler Geheimdienst-Verstrickungen entpuppt. Aktuell läuft die Suche nach dem untergetauchten Ex-Vorstand Jan Marsalek auf Hochtouren. Welche Rolle spielt der frühere Wirecard-Chef?


Danyal Bayaz: Marsalek ist ein zentraler Akteur beim Betrug, aber ganz sicher nicht der Einzige. Dieser massive Betrug mit hoher krimineller Energie lässt auf ein größeres Netzwerk schließen. Dieser Betrug wäre aber ohne ein System kollektiver Unverantwortlichkeit der Finanzaufsicht und der Wirtschaftsprüfer so kaum für solange möglich gewesen.


Hinter Marsalek wird ein ganzes Netzwerk vermutet, das diesen beispiellosen Betrugsfall erst möglich gemacht hat. Welche Erkenntnisse liegen Ihnen hierzu aktuell vor?


Wir konzentrieren uns auf das politische Versagen im Untersuchungsausschuss – wo hat die Aufsicht nicht genau hingeschaut? Wo wurde sich möglicherweise sogar politisch eingemischt? Die Straftatsbestände bei Wirecard wird die Staatsanwaltschaft im Sinne der Gewaltenteilung aufarbeiten.


Marsalek als Drahtzieher, ein möglicherweise globales Netz an Mitwissern und Helfern: Wie konnten diese kriminellen Machenschaften so lange aufrechterhalten werden, wer hat hier Ihrer Meinung nach versagt?


Noch stehen wir am Anfang des Untersuchungsausschusses. Schon jetzt lassen sich viele Defizite erkennen: Bei der Geldwäscheaufsicht war bis vor kurzem noch unklar, wer dafür verantwortlich sein soll, die Bezirksregierung in Niederbayern oder die BaFin – obwohl spätestens seit dem Zatarrareport 2016 Vorwürfe hörbar waren. Was unsere Geheimdienste von Marsaleks Aktivitäten wussten und ob sie überhaupt etwas wussten, werden wir noch klären müssen. Und bei der BaFin gibt es ja eine ganze Reihe von Fehleinschätzungen und -entscheidungen.


Wie bewerten Sie die Rolle der Bundesfinanzaufsicht BaFin im Fall Wirecard – menschliches Versagen oder strukturelle Defizite?


Auch hier müssen wir erst einmal die BaFin als Zeuge hören, bevor wir ein abschließendes Urteil fällen können. Klar ist aber, dass die BaFin über Jahre den Verschwörungstheorien Wirecards glaubte, nach welchen FT-Journalisten mit Leerverkäufern unter einer Decke steckten. Statt wenigstens ergebnisoffen und in beide Richtungen zu prüfen, wurden Warnungen durch Leerverkäufer ignoriert und Angaben Wirecards unhinterfragt übernommen. Auch die Bewertung, bei Wirecard handele es sich um ein Technologieunternehmen statt einer Finanzholding war fatal. Die Finanzholding hätte der BaFin deutlich mehr Möglichkeiten gegeben, die Wirecard AG zu überwachen. Und selbst bei der Überwachung der Wirecard Bank, ist die Finanzaufsicht offenbar nicht dringlich genug Defiziten im internen Kontrollsystem nachgegangen, als Jan Marsalek, ohne formale Rolle in der Bank, aktiv ins Kreditgeschäft eingriff.


Was können Sie uns zur Rolle von Olaf Scholz derzeit sagen, wie ist hier Ihr Ermittlungsstand? Immerhin steht der Verdacht im Raum, sein Ministerium habe Wirecard unter politischen Schutz gestellt


Wirecard wurde im Ausland durch die deutsche Bundesregierung aktiv unterstützt, so beispielsweise auf der China-Reise der Bundeskanzlerin in 2019. Daher spricht auch einiges dafür, dass das Unternehmen de facto politisch geschützt wurde. Wir wollen und wir werden herausfinden, welche politische und behördliche Ebene letztlich hierfür maßgeblich verantwortlich war. Olaf Scholz war nach Aussagen durch sein Haus stets gut informiert und wir wissen, dass die BaFin etwa das Leerverkaufsverbot gegen die Empfehlungen der Bundesbank durchgeboxt hat.


Auch die zuständigen Wirtschaftsprüfer stehen in der Kritik, der Untersuchungsausschuss hat jetzt zwei Mitarbeiter von Ernst & Young mit Geldstrafen belegt, weil diese nicht aussagen wollten. Auch hier stellt sich die Frage: Wie konnten jahrelang Bilanzen mit Phantasiebuchungen testiert werden – oder anders gefragt: Wer prüft die Wirtschaftsprüfer?


Die Wirtschaftsprüfer werden durch die Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS) beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle kontrolliert. Auch hier ist fraglich, ob die APAS zu jeder Zeit ihrem Mandat nachgekommen ist. Die Wirtschaftsprüferaufsicht muss nach einem risikoorientierten Ansatz vorgehen. Die APAS muss uns daher erklären, wieso die EY-Prüfungen bei Wirecard nicht intensiver geprüft wurden, obwohl es viele Warnzeichen in der Presse und von den Wirtschaftsprüfern selbst gab.


Angesichts der Komplexität dürfte es noch einige Zeit und zahlreiche Befragungen in Anspruch nehmen, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. Haben Sie bei der Aufnahme Ihrer Aufklärungsarbeit mit solchen Dimensionen gerechnet und mit welchem Zeithorizont planen Sie?


Aufgrund der umfangreichen Sondersitzungen des Finanzausschuss im Sommer 2020 war uns bewusst, dass es ein umfangreiches Vorhaben wird. Nun kommen immer neue Details an die Öffentlichkeit und in den Akten hervor – sodass der Berg an Fragen sogar noch deutlich gewachsen ist. Die Arbeit des Untersuchungsausschuss muss bis Ende der Legislatur im Herbst 2021 abgeschlossen sein. Aber niemand hindert den nächsten gewählten Bundestag, den offenen Fragen in der nächsten Legislatur weiter nachzugehen.


Auch für das Ansehen des Finanzplatzes Deutschland und nicht zu vergessen die Masse an Anlegern, die dem ehemaligen Dax-Konzern ihr Vertrauen schenkten, ist der Fall ein echter Skandal. Wie könnte man solche Betrugsfälle künftig vermeiden?


Ganz ausschließen kann man einen Fall wie Wirecard nie. Bei hochkrimineller Energie werden Betrüger immer Lücken finden, gerade auch in einem Finanzmarkt, der nicht nur global, sondern immer stärker auch digital organisiert ist. Dieser Skandal trifft ja nicht nur viele Kleinanleger, die einen Teil ihrer Altersvorsorge mit Wirecard verloren haben, sondern das ist auch schlecht für die vielen ehrlichen und solide wirtschaftenden FinTechs, die wir in Deutschland haben, da auch sie den Reputationsschaden für den Standort mitausbaden müssen. Neben neuen Gesetzen und Regeln, gerade auch im europäischen Kontext, brauchen wir daher dringend auch einen Kulturwandel hin zu einer Aufsicht, die allen Hinweisen nachgeht, die auf Betrug hindeuten und die regelmäßig auch ihre eigenen Entscheidungen hinterfragt, um wieder Vertrauen in den Finanzmarkt zurückzugewinnen.


Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was haben Sie in den vergangenen Monaten über menschliche Abgründe gelernt? 


Ich bin grundsätzlich Optimist und Menschenfreund. Aber was menschliche Abgründe angeht, lehrt mich dieser Skandal, dass ich nicht ausschließen darf, was ich eigentlich ausschließen würde.


Herr Dr. Bayaz, vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen!


Zur Person: Danyal Bayaz ist Mitglied der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen sowie Leiter des Wirtschaftsbeirats, Startup-Beauftragter und Mitglied des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages. Schwerpunkte seiner politischen Arbeit sind insbesondere die Digitalisierung im Finanzbereich und die ökologische Modernisierung. Als Obmann im Untersuchungsausschuss befasst sich der Grünen-Politiker aktuell mit den Vorwürfen rund um den Fall Wirecard.


 


(Pressefoto: Stefan Kaminski)