Finanzprofis haben den Ruf, trockene Zahlendreher zu sein. Zu Unrecht. Vor allem die Kunst hat es vielen angetan. Bilder von Andy Warhol und Gerhard Richter etwa gehören zu den Favoriten von Fondslegende Edouard Carmignac. Auch bei der Vermögensverwaltung Edmond de Rothschild beherrscht man mehr als nur Bilanzkennziffern. Europa sei wie ein impressionistisches Gemälde. So beschreibt Investmentchef Philippe Uzan malerisch den Zustand des Krisenkontinents. Impressionisten versteifen sich nicht auf Details, ziehen stattdessen kräftige Pinselstriche. Denn Kleinigkeiten sind faszinierend, lenken aber vom großen Ganzen ab. Erst aus der Distanz erschließt sich für den Betrachter das impressionistische Gesamtwerk. Genau diese große Perspektive aber fehlt vielen Anlegern. Die Abneigung gegenüber europäischen Aktien sei vor allem auf das makroökonomische Umfeld und weniger auf die Fundamentaldaten zurückzuführen, sagt Uzan.

Wirtschaftskrise, Inflationsangst und Politikerstreit — das sind die düsteren Schlagzeilen der Medien, aber eben nur ein Teil des Gesamtbilds Europa. Es gibt auch viele positive und für die Aktienmärkte wichtigere Entwicklungen: So haben die Europäische Zentralbank und die nationalen Regierungen die Risiken der Eurozone reduziert und das Vertrauen an den Finanzmärkten gestärkt — durch den Ankauf von Staatsanleihen der Krisenstaaten, den europäischen Rettungsschirm und die Vorbereitungen für eine europäische Bankenunion. „Europa verlässt die Intensivstation“, erklärt Asoka Wöhrmann, Leiter des Fondsmanagements der DWS. Abzulesen ist die wachsende Zuversicht an den Renditen südeuropäischer Staatsanleihen: Die Rendite für die zehnjährige Anleihe Spaniens ist von 7,5 auf rund 5,3 Prozent gesunken. Auch das Vertrauen in das Bankensystem kehrt offenbar zurück: Im Sommer noch waren Beträge in zweistelliger Milliardenhöhe von Konten bei spanischen Banken abgebucht und ins Ausland geschafft worden, im Oktober hat sich der Trend laut Daten der Europäischen Zentralbank gedreht. Auch in Griechenland wäre die Kapitalflucht vorerst gestoppt.

Die Mauer der Angst
Ganz klar: Die große Finanzkrise ist noch nicht überwunden. Europas Wirtschaft stagniert. Auch in Deutschland kühlt sich die Konjunktur ab. Die Staatsverschuldung ist noch immer hoch, die Arbeitslosigkeit in Südeuropa erdrückend. Aus Sicht der Aktienmärkte aber steht das Kurssteigerungen nicht zwingend im Weg. Angloamerikanische Investoren sprechen in diesem Zusammenhang gern von der „Wall of Worry“, der Mauer der Angst, an der die Aktienkurse hinaufklettern. Viele Investoren trauen sich in dieser Phase nicht in den Markt. Erst wenn die Angst der Investoren verfliegt, ist das obere Ende der Mauer nah. Die Kurse steigen zunächst zwar noch weiter, weil die Nachzügler in den Markt drängen. Geld machen aber nur noch jene, die in die Euphorie hinein verkaufen.

Seit mehr als einem Jahr kriechen Europas Börsen jetzt schon die Mauer der Angst hinauf. Der DAX hat seit dem Tief rund 50 Prozent an Wert gewonnen, der europäische Euro Stoxx 50 immerhin 30 Prozent. Auffallend: Die Kursgewinne gehen deutlich über die Gewinnsteigerungen der Unternehmen hinaus. Mit den Kursen ist deshalb auch das Kurs-Gewinn-Verhältnis gestiegen, nach Berechnung der Investmentbank Morgan Stanley für europäische Aktien von 9,5 auf elf. Auch das zeigt das wachsende Vertrauen in den Krisenkontinent Europa. Das Aufwärtspotenzial dürfte noch nicht ausgereizt sein. Die Strategen von Morgan Stanley erwarten, dass die Gewinne der europäischen Unternehmen im kommenden Jahr um durchschnittlich fünf Prozent wachsen. Gleichzeitig werde das KGV auf zwölf steigen, den bereinigten Durchschnittswert der vergangenen 25 Jahre.

Geldstrom aus Amerika
Gemessen an den USA sind Europas Aktienmärkte weiterhin niedrig bewertet, vor allem die Indizes in den Randstaaten der Eurozone. Die französische Bank Société Générale hat errechnet, dass der Bewertungsabschlag Europas je nach Branche bis zu 60 Prozent beträgt. Am deutlichsten ist die Lücke bei Finanzwerten. Da viele europäische Banken noch immer in großem Umfang Staatsanleihen der Krisenstaaten halten, scheinen niedrige Bewertungen hier gerechtfertigt. Dass aber Unternehmen aus dem europäischen Gesundheitsbereich im Schnitt 30 Prozent billiger sind als Konkurrenten in den USA, ist schwer nachvollziehbar. Amerikanische Aktien haben von einem bekannten Phänomen profitiert: In Krisenzeiten holen die Amerikaner ihr Geld nach Hause — sie verkaufen internationale Aktien und schichten um in Schwergewichte aus der Heimat. Schließlich sind US-Unternehmen nach Umsatz meist größer als europäische Konkurrenten und darum widerstandsfähiger. Zudem spielen Unternehmen aus defensiven Branchen in den großen US-Indizes eine deutlich größere Rolle als etwa im DAX. Deshalb stieg der US-Aktienindex S & P 500 in den Jahren 2010 und 2011 deutlich stärker als DAX und Euro Stoxx 50.

Mit steigender Risikobereitschaft aber sollte sich der Geldstrom umkehren — zurück nach Europa. Die regelmäßige Umfrage der Bank of America unter Fondsmanagern zeigt, dass die institutionellen Anleger bereits europäische Titel umschichten. Die US-Bank Morgan Stanley sieht bei europäischen Aktien größeres Kurspotenzial als bei US-Werten. Vor allem die Randstaaten der Eurozone dürften wegen der extrem niedrigen Bewertung Überraschungsaktien für das kommende Jahr bereithalten. €uro am Sonntag hat sechs Aktien herausgefiltert, mit denen Anleger von einem Comeback Europas profitieren sollten.

Lottomatica (Italien): Glücksspiel ist eine Leidenschaft der Italiener. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird zwischen Bozen und Palermo kräftig gewettet. Lottomatica organisiert in öffentlichem Auftrag die staatliche Lotterie und ist damit größter Profiteur. Das Geschäft ist durch lang laufende Verträge mit dem Staat abgesichert. Ein zweites Standbein hat das Unternehmen in den USA. Das Wachstumspotenzial ist groß: Immer mehr US-Bundesstaaten lassen ihre Lotterien aus Kostengründen extern verwalten und sind damit potenzielle Kunden für Lottomatica. Analysten trauen dem Unternehmen im kommenden Jahr ein Gewinnwachstum von 20 Prozent zu.

Luxottica (Italien): Der weltgrößte Hersteller von Sonnenbrillen leidet ebenfalls kaum unter dem Abschwung im Heimatmarkt Italien. Fast ein Viertel des Umsatzes wird in Schwellenländern erzielt, ein weiteres Viertel in Nordamerika. Australien erwies sich im dritten Quartal als einer der am stärksten wachsenden Märkte des Unternehmens. Das Unternehmen verkauft Brillen exklusiver Marken wie Ray-Ban oder Oakley in eigenen Filialen und über den Einzelhandel. Das Geschäft mit Wiederverkäufern steigerte Luxottica zuletzt prozentual zweistellig, die Gewinnmargen steigen deutlich. Auch im spanischen Markt wächst Luxottica wieder.

Jeronimo Martins (Portugal): Trotz hoher Arbeitslosigkeit laufen die Geschäfte bei Portugals Einzelhandelsholding gut. Der Discounter Pingo Doce schlägt sich als Marktführer in der Heimat wacker. Wachstumstreiber ist allerdings die polnische Discounterkette Biedronka. Der Marktführer legt im wirtschaftlich prosperierenden Polen prozentual zweistellig zu. Biedronka liefert den Großteil des Konzerngewinns.
Chef Pedro Soar bereitet gerade den Markteintritt in Kolumbien vor. In den kommenden drei Jahren soll der Umsatz jeweils um über zehn Prozent wachsen. Analysten erwarten ein Gewinnplus von 15 Prozent.

Grifols (Spanien): Der Pharma- und Medizintechnikkonzern ist auf medizinische Ausrüstungen, vor allem Plasmaderivate spezialisiert. Grifols ist Europas Nummer 1 bei Blutplasma. Die Spanier profitieren von einem konjunkturresistenten Markt und strategisch klugen Übernahmen: 2011 schluckte das Unternehmen den US-Konkurrenten Talecris für vier Milliarden Euro. Der Lohn sind jährliche Synergien von rund 300 Millionen Euro und ein inzwischen deutlich steigender Gewinn. In den ersten neun Monaten dieses Jahres vervierfachte sich das Ergebnis gegenüber dem Vorjahr auf rund 200 Millionen Euro.

Essilor (Frankreich): Das Pariser Unternehmen ist weltgrößter Hersteller von Brillengläsern. Die Erfinder des Gleitsichtglases, das älteren Kunden den nervigen Wechsel zwischen Fern- und Nahbrille erspart, profitieren von steigender Lebenserwartung und zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung in den entwickelten Märkten. Neben Europa sind die USA das Hauptstandbein, hier wuchs der Umsatz zuletzt um rund fünf Prozent. Das Wachstum in Schwellenmärkten wie Asien und Lateinamerika, wo Essilor rund ein Viertel des Umsatzes erzielt, liegt bei etwa 14 Prozent.

Inditex (Spanien): Dass sich die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen in Spanien auf Rekordniveau befindet, spürt der Textilkonzern Inditex — schließlich richtet sich die Mode der Kette Zara vor allem an jüngeres Publikum. Spanien ist mit rund
20 Prozent Umsatzbeitrag für den inzwischen weltgrößten Textilkonzern aber ein Markt unter vielen. Das Wachstum kommt vor allem aus Schwellenländern wie China und dem immer stärker werdenden Onlinegeschäft. Gründer Armancio Ortega, inzwischen reichster Europäer, freut sich über ein weiteres gelungenes Jahr: Der Umsatz wuchs in den ersten neun Monaten des Jahres um 17 Prozent auf 11,4 Milliarden Euro. Mit 1,7 Milliarden Euro Nettogewinn liegt die Marge bei 15 Prozent — Tendenz steigend: Dank effizienter Produktion steigt die Profitabilität.