Deutsche und US-Amerikaner mag vieles trennen. In ihrer Entrüstung über die hohen Benzinpreise sind sich die Bürger beider Nationen aber einig. Ihre Wut richtet sich gegen die Energiepolitik der Regierungen — und gegen die Preistreiberei der Mineralölkonzerne. Der Wucher an der Zapfsäule trifft Autofahrer dort, wo es am meisten schmerzt: am Geldbeutel. Mit der Empörung der Konsumenten nimmt die Sorge der Volkswirte zu. So warnt Fatih Birol von der Internationalen Energieagentur (IEA), dass „die hohen Ölpreise die Weltwirtschaft wieder in die Rezession stürzen könnten“. Seit Oktober 2011 ist der Preis für ein Barrel (159 Liter) der Nordsee-Ölsorte Brent um 24 Prozent gestiegen. Die Möglichkeit eines militärischen Konflikts wegen des iranischen Atomprogramms treibt die Angst vor Versorgungsengpässen und damit die Notierungen. „Die Risikoprämie beim Erdöl beträgt derzeit etwa zehn Prozent“, sagt Daniel Würmli, Fondsmanager des Swisscanto Equity Fund Selection Energy. Was sich bei Autofahrern auf ein paar Euro oder US-Dollar mehr pro Tankfüllung summiert, hat volkswirtschaftlich bedrohliche Dimensionen. Wurden in Europa zwischen 2000 und 2010 im Schnitt 223 Milliarden Dollar für Ölimporte ausgegeben, werden es dieses Jahr voraussichtlich über 500 Milliarden US-Dollar sein. Europäische Haushalte werden in diesem Jahr rund elf Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Strom, Heizung und Transport ausgeben. 2011 lag der Anteil noch bei rund neun Prozent. Nach Berechnungen von Goldman Sachs kostet jeder Ölpreisanstieg um zehn Prozent bis zu einem halben Prozentpunkt des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts in den Industriestaaten. In normalen Zeiten kein Drama, doch angesichts der Schuldenproblematik und der wackeligen Konjunktur können Belastungen dieser Art schnell einen Flächenbrand auslösen. Profiteure des Booms sind die Produzenten. Die Erdöl exportierenden Staaten dürfen sich 2012 daher auf einen warmen Geldregen in Höhe von 1,2 Billionen US-Dollar freuen. Petrodollars, die die Staaten auch dringend benötigen. Russland finanziert seinen Haushalt beinahe exklusiv aus dem Rohstoffsektor. Im Nahen Osten hängen die Staaten ebenfalls am Tropf. „Saudi-Arabien benötigt Preise von 100 US-Dollar je Barrel“, erklärt Würmli. „Mit dem Geld aus den Ölexporten wird eine Reihe von Sozialprogrammen gefahren, die eine Ausbreitung des arabischen Frühlings im Königreich verhindern sollen.“

Staaten horten Öl
Dass Saudi-Arabien vor Kurzem den Ölpreis als zu hoch gegeißelt und Förderausweitungen versprochen hat, ist kein Widerspruch. Auch den Scheichs ist klar: Steigen die Energiekosten allzu rasant, droht ein Absturz der Weltwirtschaft und damit ein heftiger Einbruch der Notierungen. Denn nach Worten des IEA-Experten Birol gingen bisher alle Rezessionen nach dem Zweiten Weltkrieg Hand in Hand mit einem zu schnellen Anstieg der Ölpreise. Und sollte es tatsächlich zu einem Krieg Israels mit dem Iran und zu Lieferengpässen im Nahen Osten kommen, sind Notierungen von bis zu 200 US-Dollar laut Bank of America realistisch. Damit würden sich die Benzinpreise in Deutschland in Richtung Drei-Euro-Marke je Liter bewegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Horrorszenario schon in Kürze eintritt, gilt einstweilen als gering. Die USA, die sich gerade aus dem wirtschaftlichen Tal der Tränen herausarbeiten und auf die Präsidentschaftswahlen zusteuern, haben deutlich gemacht, dass sie derzeit keine militärischen Auseinandersetzungen wünschen. Sollte sich die Lage wider Erwarten schnell beruhigen, dürften die Notierungen daher ebenso unter Druck geraten wie bei der von den USA, Frankreich und Großbritannien aktuell diskutierten Freigabe strategischer Ölreserven. Derzeit füllen viele Staaten aber noch ihre Vorratslager, um mögliche Versorgungsengpässe infolge eines Iran-Konflikts ausgleichen zu können. Allein China soll bis zu 500 000 Barrel Öl am Tag beiseiteschaffen. Der zweitgrößte Ölkonsument der Welt will bis 2020 knapp 170 Millionen Barrel in der Hinterhand haben, um für Notfälle gewappnet zu sein.

Das Ölbunkern ist nur einer unter vielen Indikatoren dafür, dass die Abhängigkeit vom schwarzen Gold in den vergangenen Jahren trotz des Booms der erneuerbaren Energien und des Ausbaus der Kernenergie keineswegs geringer geworden ist. Im Gegenteil: Immer noch ist Öl mit einem Anteil von einem Drittel am globalen Verbrauch die Energiequelle Nummer 1, vor allem im Transportsektor. Ersatz durch Kohle oder Gas ist so schnell nicht möglich. Der Verbrauch steigt speziell in Schwellenländern stark an und frisst die erreichten Einsparungen in den Industrieländern auf. Schätzungen zufolge dürfte der Ölverbrauch der aufstrebenden Volkswirtschaften von heute 35,9 bis 2035 auf 61,9 Millionen Fass pro Tag steigen.

Ob das tatsächlich eintritt, hängt wiederum von der Ölpreis- und Produktionsentwicklung ab. Dagegen spricht, dass inzwischen Vorkommen ausgebeutet werden, die früher unbeachtet blieben. Ob Ölsand, ausgelaugte Felder oder Tiefseebohrungen — bei Preisen von über 100 US-Dollar je Barrel wird heute vieles gefördert, was noch vor wenigen Jahren als unrentabel galt. Unterm Strich allerdings hat sich die Produktionsmenge seit 2006 weltweit kaum nach oben bewegt. Denn neue Funde sind rar, alte Vorkommen gehen langsam, aber sicher zur Neige. „Man müsste selbst bei konstantem Verbrauch viermal die Ölvorkommen Saudi-Arabiens neu erschließen, um die Abnahme der Felder bis 2030 auszugleichen“, schätzt Birol. Neue Großvorkommen gibt es nur noch in technologisch schwierig zu erschließenden und politisch unsicheren Regionen. Zum Nachteil der Ölunternehmen, die immer häufiger mit Katastrophen wie im Golf von Mexiko oder mit Enteignungen wie in Venezuela zu kämpfen haben. Diese Probleme schlagen sich in Form höherer Förderkosten und Risikoabschläge direkt in den Bilanzen der Ölkonzerne nieder. So hinken die Aktienkurse von Exxon und anderen Giganten den Energiepreisen weit hinterher. Während die Sorte Brent seit 2002 um über 500 Prozent zugelegt hat, ist der Börsenwert von Exxon „nur“ um 186 Prozent in die Höhe geschossen. Anders sieht es bei kleineren Unternehmen aus, die sich als Dienstleister für die großen Konzerne viel besser entwickelt haben. Weiterer Pluspunkt der Kleinen: Sie werden nicht wie Ölkonzerne oder Politiker von Autofahrern an den Pranger gestellt.