Als Yoshiko Noda am 14. November 2012 am Rednerpult im japanischen Parlament in Tokio stand, blieb Oppositionsführer Shinzo Abe kurz der Atem weg. Hatte Ministerpräsident Noda eben tatsächlich in Aussicht gestellt, das Parlament in zwei Tagen vorzeitig aufzulösen? Hatte er politischen Selbstmord begangen und ihm, dem beliebten Oppositionsführer Shinzo Abe, die Rückkehr an die Macht ermöglicht? Er hatte. Shinzo Abe ist seit dem 26. Dezember Japans neuer Ministerpräsident. Es ist nicht seine erste Amtszeit. Von 2006 bis 2007 leitete der Chef der Liberaldemokratischen Partei LDP schon einmal das Land — leider erfolglos. Nun greift der damals als „Zauderer“ und „Weichei“ abgestempelte Spross einer Politikerdynastie tief in die Waffenkiste: Er wird Billionen in die Wirtschaft pumpen und will den Wert des Yen drücken, um Japans Konzernen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Die Börse in Tokio feiert das. Seit sich Abes Waffengang am 14. November abgezeichnet hat, ist der japanische Leitindex um 23 Prozent auf 10 650 Punkte gestiegen. Von alten Höhen ist man dennoch weit entfernt. Im Dezember 1989 stand der Nikkei bei fast 40 000 Punkten. Dann platzte die Immobilienblase und brachte die Banken des Landes in Schieflage. Fortan herrschte in Japan Dauerkrise und Deflation, Löhne und Preise fielen, die Wirtschaft stagnierte.

Kampf gegen die Stagnation
Seither ist das Land auf der Suche nach einem Retter, der es aus dem Dornröschenschlaf holt. In Abe meinte man ihn schon einmal gefunden zu haben. „Prinz“ nannten ihn die Japaner, als er 2006 als jüngster Ministerpräsident der Nachkriegsgeschichte vereidigt wurde. Ein schmeichelhafter Spitzname für einen Politiker, Helmut Kohl war für die Deutschen nur „die Birne“. Doch Abe warf schon nach einem Jahr alles hin, und auch seinen fünf Nachfolgern ging es nicht viel besser. Naoto Kan von der Demokratischen Partei DPJ stürzte über sein miserables Krisenmanagement nach der Atom- und Tsunami-Katastrophe im Frühjahr 2011. Ihn beerbte Yoshiko Noda, unter dem die Wirtschaft weiter einbrach. Die Stimmung in Japans Unternehmen sank zuletzt auf den tiefsten Stand seit dem Unglück. In seiner zweiten Amtszeit will Shinzo Abe nun alles besser machen. Das heißt: noch aggressiver gegen Deflation und Stagnation angehen. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Kyodo plant die Regierung zu diesem Zweck einen Nachtragshaushalt für das noch bis Ende März laufende Steuerjahr von rund zwölf Billionen Yen (rund 100 Milliarden Euro). Das sind zwei Prozent der Wirtschaftsleistung.
Hinzu soll eine ultralockere Geldpolitik kommen. Geht es nach Abe, wird die Bank of Japan (BoJ) unbegrenzt Geld in die Wirtschaft pumpen, um die hartnäckige Deflation endlich in steigende Preise zu verwandeln. Allein diese Ankündigung hat den Yen seit dem 14. November um 15 Prozent gegen den Euro und elf gegen den US-Dollar gedrückt.

Japans wirtschaftliche Konkurrenten sind davon wenig begeistert. Abes Abwertungspolitik bedroht ihre Anteile auf dem Weltmarkt, weil japanische Produkte dort billiger werden. Der britische Notenbankchef Mervyn King befürchtet deshalb, das japanische Modell könnte Schule machen und zu einem globalen Abwertungswettlauf führen. Die Exportnation Südkorea denkt zum Beispiel längst über Eingriffe am Devisenmarkt nach. Und auch in den USA und China schätzt man die Vorteile einer schwächeren Währung. Abe schert sich darum wenig, er will einen „Raketenstart“ für die heimische Wirtschaft. Doch viele Ökonomen sind skeptisch. Assenagon-Chefvolkswirt Martin Hüfner sieht in der Konjunkturpolitik des 58-Jährigen nicht mehr als einen „Griff in die Mottenkiste keynesianischer Rezepte“. Japans Probleme — die überalterte Gesellschaft, der streng regulierte Arbeitsmarkt, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in einigen Bereichen — löse sie nicht. Börsenexperten sehen das ähnlich, glauben aber, dass der fallende Yen den Aktienmarkt beflügeln wird. Der Schweizer Finanzmanager Felix Zulauf traut dem Nikkei in diesem Jahr ein Plus von weiteren 20 Prozent zu. Bert Flossbach vom Vermögensverwalter Flossbach von Storch rechnet damit, dass die Gewinne der japanischen Exportunternehmen um 20 bis 30 Prozent steigen werden, sollte der Yen um weitere zehn Prozent abwerten.

Hoffnung auf die Wende
„Soll das geschehen, muss die BoJ nun liefern“, sagt Ernst Glanzmann, der den Julius-Baer-Japan-Fonds leitet. Er gilt als Japan-Veteran, ist seit dem Hoch des Nikkei Ende der 80er-Jahre dabei. Möglich wäre zum Beispiel, dass die BoJ so lange japanische Staats- und Unternehmensanleihen kauft und damit die Geldmenge ausweitet, bis eine Teuerungsrate von zwei Prozent erreicht ist. Zudem will Japan in Anleihen des europäischen Rettungsschirms EFSF investieren, um den Euro zu stärken und im Gegenzug den Yen zu schwächen. Man ist offenbar zu allem bereit. „Die Frage ist, ob es einen Pakt der Notenbank und der Regierung geben wird“, sagt Glanzmann. Dafür müssten Gesetze geändert und im April Notenbankchef Masaaki Shirakawa ausgetauscht werden. Die Chancen dafür stehen gut. Denn ein schwächerer Yen und ein Ende der Deflation würde allen helfen. Die Japaner würden ihren Konsum nicht mehr in die Zukunft verschieben, weil etwa die Preise für Autos steigen und nicht mehr fallen würden. Die Autobauer Toyota, Honda und Isuzu oder die Elektronikkonzerne Sharp und Toshiba könnten im Inland höhere Preise durchsetzen und ihre Waren im Ausland besser verkaufen. Der Stahlgigant Nippon Steel hätte einen Vorteil gegenüber den Konkurrenten in Südkorea oder China. Der Nikkei würde steigen, und mit ihm die Gewinne von Banken, Versicherern und Wertpapierhändlern wie Nomura, Sumitomo Finance oder Daiwa. Sollten inflationsbedingt die Zinsen steigen, würden sie ebenfalls profitieren.

Steigende Zinsen — sie könnten die Kehrseite von Abes Konjunkturpolitik sein. Weicht der Yen zu stark auf, verspielt Japan an den Finanzmärkten Vertrauen. Fatal für ein Land, das an der Wirtschaftsleistung gemessen deutlich höher verschuldet ist als Griechenland. Die Mehrheit der Staatsschulden wird zwar von Japanern gehalten, zudem soll eine neue Reichensteuer Geld in die Kassen spülen. Doch mit mehr als einer Billiarde Yen übersteigt die Höhe der Schulden langsam die Höhe der privaten Vermögen. Zudem werden die Japaner immer älter. Es klingt paradox, doch in dieser Alterung steckt eine Chance zur Erneuerung. Unternehmen wie Uni-Charm haben es vorgemacht. In Japan werden heute mehr Windeln für Senioren verkauft als für Kinder. Uni-Charm stellt sie her, vertreibt seine Babywindeln jetzt in China, Indonesien und Taiwan — und ist damit zu einem asiatischen Pendant von Procter & Gamble aufgestiegen. Ein genereller Trend: 2004 erzielten Japans Konzerne noch 70 Prozent ihrer Gewinne im Inland, heute sind es nicht einmal mehr 50 Prozent. Liegt Japans Zukunft also nur außerhalb Japans? Nein. „In Tokio sieht man wieder mehr junge Menschen in den Restaurants und Cafés“, sagt Japan-Experte Glanzmann. „Die Jugend zieht zurück in die Innenstädte, das Geld sitzt wieder lockerer.“ Es gibt einen Hauch Hoffnung für das Land der Samurais.