Vor der Abstimmung um den Brexit hielt sich hartnäckig das Gerücht, Großbritannien zahle jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU. Wie hoch die Summe wirklich ist, wusste niemand so genau, bis die Tageszeitung The Guardian sich einmal die Mühe machte und nachrechnete. Das Resultat: Es sind weniger als 136 Millionen. Doch die Nachricht über die dreiste Lüge der Brexit-Befürworter kam zu spät und konnte die schlechte Stimmung im Land nicht mehr drehen. Die Briten stimmten ab und der gefühlte Verdruss über die Last einer Mitgliedschaft der EU machte sich mit knapper Mehrheit in den Wahlkabinen des Vereinigten Königreichs bemerkbar.


Sobald ein Netto-Zahler in einer Gemeinschaft ausfällt stellt sich immer die Frage: Wer kompensiert die ausbleibenden Zahlungen? „Die Zahlungsausfälle infolge des Brexit wirken sich in 2016, 2017 und 2018 nicht auf den Bundeshaushalt aus", sagt Jens Spahn, Staatssekretär des Finanzministeriums auf der Kapitalmarktkonferenz der Privatbank Donner & Reuschel am Donnerstag. Spahn begründet dies mit den zeitraubenden Austrittsverhandlungen. Mindestens zwei Jahre werde es dauern, bis die ersten verbindlichen Entscheidungen getroffen seien. Natürlich könne das Finanzministerium schon vorher Rückstellungen bilden, doch auch dafür sei es jetzt noch zu früh.

Rückblickend betrachtet gab es in den vergangenen Jahren genügend Gelegenheiten dafür, dass die EU an anderer Stelle auseinanderbrechen könnte. Allen voran am Beispiel Griechenland lässt sich das verdeutlichen. Mit einem Austritt der Briten hatte niemand gerechnet.

Bei all der Geduld, welche die europäische Gemeinschaft mit dem Schuldenstaat Griechenland aufgebracht hat, um sie im Euro zu halten, hält Spahn es für überraschend, warum bei den Briten nach dem Referendum „mit so viel Häme nachgetreten wird“. Der Seitenhieb des Staatssekretärs gilt allen Brexit-Befürwortern in Europa, die sich angesichts der überraschenden Entwicklungen in Großbritannien auf die Schenkel klopfen und in den Medien Schadenfreude äußern. Großbritannien sei der wichtigste Handelspartner für Deutschland in Europa, die Entscheidung der Briten sei zu bedauern.

Versöhnliche Töne in schwierigen Zeiten
Darüber hinaus müsse man sich einmal bewusst werden, wie gut es Deutschland gehe, im Vergleich zum Stand vor zehn Jahren. „Damals war Deutschland der kranke Mann Europas“, erinnert Spahn und lobt die Agenda 2010 der sozialdemokratischen Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer. „Wir haben so viele Erwerbstätige wie noch nie in Deutschland“. Die daraus resultierenden hohen Steuereinnahmen haben auch dazu geführt, dass Deutschland nach 45 Jahren erstmals aus der Schuldenspirale aussteigen konnte und auch im laufenden Haushaltsjahr voraussichtlich wieder einen Überschuss erzielen wird.

Die Bundesregierung wird aber auch für ihre Finanzpolitik kritisiert. Zahlreiche Stimmen fordern mehr Investitionen, um das Wachstum zu befördern. „Ausgabenwünsche abwehren ist mindestens so schwer wie sparen“, sagt Spahn. Doch ein ausgeglichener Haushalt einer über viele Jahre stabilen Wirtschaft setzt nicht nur Zeichen nach innen, sondern auch nach außen. Deutschland war einer der ersten Staaten, die die Maastricht-Kriterien zur Begrenzung der Neuverschuldung im Jahr 2005 verletzt haben. Der Kampf gegen die Schuldenlast in Europa sei wie mit einem Schulhof zu vergleichen. „Wenn die Großen sich nicht an die Regeln halten, dann folgen schnell auch die Kleinen.“ Daher müsse Deutschland nun als gutes Beispiel vorangehen, verteidigt Spahn den Sparkurs seines Finanzministers Wolfgang Schäuble.

Demografischer Wandel: Ein Stresstest für unser Rentensystem
Neben den aktuellen Entwicklungen, gilt es aber auch den langfristigen Probleme wie zum Beispiel durch den demografischen Wandel anzugehen. Deutschland ist hinter Japan die zweitälteste Gesellschaft der Welt. Und der große Umbruch kommt erst noch, wenn die Generation der Baby-Boomer im Jahr 2030 in Rente geht. Bis dahin sind es nur noch 14 Jahre. Und unser Rentensystem ist auf diesen Wandel noch lange nicht vorbereitet. Die Bundesregierung hält daher an einer Rente mit 67 Jahren fest. Überdies gibt es Bemühungen von Arbeitsministerin Andrea Nahles, den aus dem Berufsleben ausscheidenden Bürgern einen flexibleren Übergang in das Rentenalter zu ermöglichen, der schon ab 63 Jahren möglich sein soll.

„Das sei ein riesiger Fehler“, warnt Laurenz Czempiel, Mitglied des Vorstands der Privatbank Donner & Reuschel in seinem Vortrag auf der Kapitalmarktkonferenz in München. Dem demografischen Wandel könne man nur mit zwei Faktoren begegnen: Entweder mit mehr Arbeitskräften oder mit steigender Profitabilität. Die niedrige Geburtenrate führt jedoch dazu, dass es in Zukunft massiv an Arbeitskraft fehlt. Das ist ein Fakt. Also bleibt nur noch der Faktor Produktivität, um diesem demografischen Fiasko entgegenzuwirken.

In den vergangenen Jahren habe sich jedoch gezeigt, dass selbst das Zeitalter der Digitalisierung die Produktivität nicht maßgeblich gesteigert habe. „Selbst die Digitalisierung kann den demografischen Trend nicht aufhalten", sagt Czempiel. Statistisch gesehen sinkt die Produktivität trotz Digitalisierung im langfristigen Trend seit 1971.

„Die Deutschen sparen relativ unklug“, gesteht Spahn. Nicht einmal zehn Prozent der Deutschen hat Aktien im Portfolio. Die Unsicherheit ist groß. Nicht nur an den Kapitalmärkten, sondern auch in dem Verhalten der Anleger angesichts niedriger Zinsen, externen Schocks wie dem Brexit und einer unsicheren Altersvorsorge aufgrund der altersschwachen Rentensysteme.

In dieser volatilen Marktphase wird die Suche nach dem Rettungsanker immer schwieriger. Mit dem ausgeglichenen Haushalt in Deutschland „haben wir aber eine gute Basis, um die vielen Unsicherheiten zu bewältigen“, sagt Spahn abschließend.