Stand: Das Gespräch wurde am 17. April 2020 aufgezeichnet.


FondsDISCOUNT.de: Herr Sieren, Sie leben seit 26 Jahren in Peking und gelten als ausgewiesener China-Experte. Wie haben Sie den Ausbruch des Corona-Virus und die verhängten Quarantäne-Maßnahmen vor Ort erlebt?


Frank Sieren: Ich habe einen Teil der Zeit in Hongkong verbracht. Da sind die Maßnahmen inzwischen etwas entspannter, aber für Peking kann man sagen, dass die Quarantänemaßnahmen einerseits sehr streng waren – der Staat hat hart durchgegriffen. Andererseits waren die Menschen aber auch sehr diszipliniert und haben das alles mitgemacht. Dies hat dazu geführt, dass man auf die Bevölkerungszahl gerechnet mit relativ wenig Infizierten und Toten aus der Krise herausgekommen ist. Und auch die Dauer der Krise ist überschaubar. Dies gilt ja nicht nur für China, sondern auch für wirtschaftliche Motoren Asiens, vor allem für Japan und Südkorea, Singapur und Hongkong, aber auch für die wirtschaftlich starke Insel Taiwan. Indonesien und Indien sind hingegen noch nicht über den Berg. 


Wie ist der gegenwärtige Stand? Die chinesische Regierung hat die Wirtschaft ja inzwischen wieder anlaufen lassen, nachdem Neu-Infektionen laut offiziellen Verlautbarungen inzwischen nur noch von außen ins Land kommen…


Inzwischen läuft die Wirtschaft tatsächlich langsam aber stetig wieder an. Das Tal, in dem China war, ist allerdings sehr tief. Mit minus 6,8 Prozent hat China heute das mit Abstand schlechteste Quartal seit der Mao Zeit verkündet. Aber darüber darf man nicht vergessen, dass es schon wieder eine starke Aufwärtsbewegung gibt. Die Industrieproduktion war im Januar und Februar um 20 Prozent eingebrochen. Im März nur noch um 1,1 Prozent. Ähnliches gilt zumindest für Chinas Exporte nach Asien. Die beiden ersten Monate waren sehr schlecht. Im März dann schon wieder eine 0,0, also kein Wachstum, aber auch kein Einbruch. Und über die Hälfte aller Exporte Chinas gehen inzwischen nach Asien. Auch die Immobilienverkäufe haben bereits wieder über 60 Prozent des Normalniveaus erreicht. Die Preise sind kaum eingebrochen. Ein untrügliches Zeichen, dass die Konsumenten zuversichtlich sind.     


Aber es ist natürlich ein riesiger Schritt, wenn man die Wirtschaft einmal runtergefahren hat, sie dann wieder auf Normalbetrieb zu kriegen. Die meisten Menschen sind zwar wieder an ihren Arbeitsstätten, aber man hat das volle Produktionsniveau noch nicht ganz erreicht. Aber – und das ist ganz wichtig: Einstweilen geht es stetig bergauf. Das ist insofern wichtig, weil China alleine 30 Prozent des Wachstums der Weltwirtschaft stemmt. Es gibt zwar noch Probleme, was einzelne Lieferketten angeht. Das Exportgeschäft erholt sich wie gesagt. Aber es ist noch deutlich unter normal. Denn die Nachfrage aus Amerika und Europa ist stark eingebrochen, auch wenn das Online-Geschäft weiterhin funktioniert. Das bremst natürlich und wird auch erst einmal noch anhalten. Allerdings machen die Exporte nur etwa 17 Prozent der chinesischen Wirtschaftskraft aus und nur wie gesagt ungefähr die Hälfte davon geht in den Westen. Wir reden hier über unter zehn Prozent der Wirtschaftskraft. Für die Regierung sind jetzt drei Themen wichtig Erstens, die Menschen müssen wieder konsumieren. Denn dieser Sektor ist inzwischen in China der größte Wachstumsträger. Zweitens, dass es wirklich wenig Arbeitslose gibt. Und drittens, dass auch die kleinen und mittelständischen Betriebe vom Staat unterstützt werden. Diese Unternehmen konnten somit an die Zeit, als der Stillstand verhängt wurde, das war der 23. Januar, möglichst reibungsfrei wieder anknüpfen. Im Moment funktioniert das alles noch ohne ein richtig großes Konjunkturprogramm wie zu Zeiten der Finanzkrise 2008/2009. Aber es wird jetzt täglich beraten, was noch getan werden muss, um die Wirtschaft wieder schneller in Gang zu bekommen. 


Für wie glaubwürdig halten Sie die offiziellen Corona-Zahlen?


Natürlich gibt es überall Dunkelziffern. Und In bevölkerungsreichen Ländern mit Zensur ist der Spielraum um zu schummeln viel größer. Die Chinesen mussten ja gerade um 1.200 Tote – also 50 Prozent – nach oben korrigieren. Doch der Abstand zu Spanien und den USA bleibt. Nunmehr haben wir 4.500 Tote in China. Bald 20.000 in Spanien. Über 30.000 in den USA.


Aber im Großen und Ganzen gehe ich davon aus, dass die Angaben als Trend stimmen. Vor allem die Zahlen der Neuinfektionen. Hierfür gibt es mehrere Begründungen.


Erstens ist die Krise ja nicht nur in China so einigermaßen glimpflich verlaufen, sondern auch in Taiwan, in Singapur, in Hongkong, in Südkorea und in Japan. Dort hat man ähnlich wie in China relativ früh stark durchgegriffen, auch wenn die einzelnen Länder unterschiedliche Maßnahmen umgesetzt haben. In Südkorea etwa hat man eben sehr viel getestet, in China hat man sehr stark zugemacht – aber man sieht doch eine durchgehende Tendenz. Die Demokratie Japan hat mit 120 Millionen Einwohnern eine ungefähr ähnliche Zahl an Infektionsfällen und Verstorbenen wie das Bundesland Hessen, auch wenn gerade die Sorge vor einem Rückfall steigt. Die Demokratie Südkorea hat mit 50 Millionen Einwohner so viele Coronatote wie Niedersachsen – bei 2.000 mehr Infektionen. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass all diese Länder ihre Zahlen fälschen.


Zweitens glaube ich nicht, dass es die chinesische Regierung politisch riskieren würde, ihre besten Ärzteteams und Spezialisten in die Welt zu schicken, wenn sie sich nicht sehr sicher wären, dass sie die Situation zu Hause im Griff haben. Denn das wäre ein politischer Super-Gau, wenn sich herausstellen würde, dass zu Hause alles wieder aufflammt weil die Zahlen gefälscht sind, während die Teams in der Welt herumschwirren. Das würde die Regierung unter Präsident Xi Jinping politisch enorm schwächen. Das gleiche gilt für einen großen Teil der Produktion von medizinischen Geräten und Schutzkleidung fürs Ausland. Die schickt man nur los, wenn man sich sicher ist, dass man sie nicht selbst braucht. 


Der dritte Punkt ist, dass die Erfahrungen aus der Asien-Krise 1997, der SARS-Krise 2001 und der Weltfinanzkrise 2008 zeigen, dass die Menschen in diesen Ländern sehr schnell in der Lage sind, „umzuschalten“. Nachdem die Krise vorbei ist, schaut man tendenziell nicht zurück, sondern krempelt die Ärmel hoch und macht weiter. Das ließ sich in den letzten Jahren gut beobachten. Die Menschen in Asien sind also mehr als die Menschen im Westen solche Krisen auch gewohnt. Die Mitte 50-Jährigen in China haben sogar noch das Chaos der Kulturrevolution erlebt. Danach haben die Menschen mindestens alle zehn Jahre eine Krise erlebt. Sie mussten lernen, wie sie damit umgehen. Es fiel ihnen leichter, weil in Asien ein anderes Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft üblich ist. Der Einzelne nimmt sich eher im Sinne der Gemeinschaft zurück. Sie haben aber auch erlebt, wie der Staat damit umgeht. Dass sie sich in solchen Situationen auf den Staat verlassen können. Diese Erfahrungen führen dazu, dass China und andere asiatische Länder schneller als andere Weltregionen wieder in die Normalität zurückkehren können. Das funktioniert aber nur, wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, vom Staat massiv belogen zu werden. Konsum basiert auf dem Vertrauen in Stabilität.


Vorausgesetzt, die Epidemie in Wuhan ist soweit tatsächlich unter Kontrolle und die Wirtschaft nimmt langsam wieder an Fahrt auf: Könnte China jetzt der dringend benötigte Motor der Weltwirtschaft werden?


Ja, also ich glaube, aus den eben beschriebenen Gründen ist es sehr gut möglich, dass China jetzt wieder der Motor der Weltwirtschaft wird. Das entscheidende Wort hierbei ist „wieder“, weil China ja davor schon 30 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums alleine gestemmt hat – die USA etwa elf Prozent und die Europäer vier Prozent und weitere 30 Prozent kamen aus Asien. Das heißt, wir haben es hier mit einer Entwicklung zu tun, die nicht nur China betrifft, sondern eben ganz Asien. In solchen Krisen rückt Asien zudem eher enger zusammen. Es ist ja auch ein asiatisches Freihandelsabkommen fast fertig verhandelt und wird voraussichtlich noch dieses Jahr zu einem Abschluss kommen, sobald sich Indien und China geeinigt haben. In den anderen Ländern hat man sich schon geeinigt. Insofern halte ich die Möglichkeit, dass das Abkommen bald kommt für sehr wahrscheinlich und das wäre natürlich eine gute Nachricht für die Weltwirtschaft. 


Denn es wäre schon sehr schlimm gewesen, wenn der Lockdown praktisch in allen Regionen der Welt zur gleichen Zeit stattgefunden hätte. Aber das ist ja nun nicht so, sondern Europa und Amerika sind zu einem Zeitpunkt betroffen, zu dem China und Teile Asiens die Krise im Grunde schon hinter sich habe. Das ist nicht nur wirtschaftlich gesehen positiv zu werten, sondern auch medizinisch im Kampf gegen das Virus. China kann mit seinem Know-how und seinen Produktionskapazitäten im Bereich medizinische Geräte dem Rest der Welt helfen – und das natürlich auch politisch geschickt nutzten. Ein Motor der Weltwirtschaft China wird China sicher wider. Ob es in der Lage ist die Weltwirtschaft aus der Krise zuziehen wie 2009, kann man noch nicht sagen. Das hängt davon ab, wie sehr tief die Wirtschaft im Westen einbricht. 


Was bedeutet dies für die zum Teil bereits schon jetzt stark gebeutelten europäischen Volkswirtschaften?


Für die europäischen Volkswirtschaften bedeutet dies, dass sie die Last des Wiederaufbaus nicht völlig alleine tragen müssen, sondern dass es in anderen Regionen der Welt schon wieder besser läuft. Konkret: Ein Unternehmen wie etwa Volkswagen ist mit seinen Autofabriken in China fast schon wieder auf dem Weg zum Normalniveau, während die Produktion im Westen, in Amerika und Europa, noch gestoppt ist.


Das ist natürlich ein riesiger Unterschied, wenn in dem wichtigsten Wachstumsmarkt schon wieder die Normalität zurückgekehrt ist. Das gilt natürlich nicht nur für Volkswagen, sondern auch für viele andere Unternehmen aus anderen Bereichen. Man darf das alles also keinesfalls unterschätzen, schon gar nicht in einem Land wie Deutschland, in dem die Exporte etwa 47 Prozent der Volkswirtschaft ausmachen. Gerade für solch exportabhängige Länder ist es wichtig, dass die Nachfrage nach den eigenen Produkten in anderen Regionen der Welt schon wieder anläuft, während die Nachfrage im eigenen Land noch stagniert.


Wie ist Ihre Einschätzung bezüglich des sehr angespannten Verhältnisses zwischen den USA und China?


Dieses Verhältnis ist und bleibt sehr schwierig. Hier stehen sich die absteigende Weltmacht USA und die aufsteigende Weltmacht China gegenüber. Es sieht so aus, als ob China schon länger jeden Tag ein bisschen stärker wird. Nun wird es immer wahrscheinlicher, dass China relativ stärker aus dieser Krise hervorgehen wird, weil eben die Virus-Bekämpfung nach den anfänglichen Vertuschungen viel strukturierter und organisierter war als im Westen. Dadurch geraten die Amerikaner womöglich noch mehr in die Defensive, was sie nicht entspannter werden lässt.


Mit diesem Machtkampf werden wir also noch sehr lange zu tun haben. Der amerikanische Außenminister hat ja in diesen Tagen schon wieder sehr deutlich gemacht, dass Washington den Druck auf China nicht abschwächen will. Im Gegenteil, die Vorwürfe nehmen zu: Die chinesische Regierung hätte Informationen zu spät geliefert. Man müsse daher über einen Schadensersatz reden. Das kommt bei Trumps Wählern gut an. Auch, wenn es nicht stimmt. Die Erkenntnisse wurden seit Ende Januar öffentlich zugängig – sogar in den renommiertesten westlichen, vor allem britischen und amerikanischen Wissenschaftszeitschriften. Spätestens Ende Februar lagen alle Fakten auf dem Tisch. Aber darum geht es ja nicht, sondern es geht darum, den Wettbewerber zu schwächen und davon abzulenken, dass man selbst erst sehr spät reagiert hat. Das Gleiche gilt auch für die WHO-Debatte. Da geht es gar nicht um die WHO, sondern um den Machtkampf zwischen China und den USA und um Trumps Wähler. Dieser Machtkampf wird nicht mit dem Virus verschwinden. Die Viruskrise ist gewissermaßen nur das Wirtstier des Machtkampfes. 


Dies ist eine schwierige Gemengelage vor allem auch für Europa, das ja traditionell mehr dem Wertesystem der USA zugeneigt ist. Denn nun wird immer deutlicher, dass die Politik der USA nicht immer im Interesse der Europäer ist, wenn es um das Thema Handel geht, um die Klimapolitik, um den Iran und nun auch um die WHO. Im Grunde hat Brüssel inzwischen in diesen wichtigen Fragen eine größere Schnittmenge mit Peking als mit Washington. Interessant wird werden, wie sich Europa dazu positioniert. Die einzige positive Nachricht in diesem Kampf der Weltmächte: Beide Seiten haben kein Interesse, ihn in Form eines militärischen Krieges auszutragen. Sie beschränken sich auf einen Wirtschaftskrieg.


Während für die Chinesen eine langsame Rückkehr zur Normalität in Aussicht steht, dauern die Beschränkungen in Europa angesichts hoher Infektionszahlen an – auch wenn jetzt erste Lockerungen kommen sollen. Was möchten Sie den Menschen in Deutschland raten?


Die Aufgabe muss es nun sein, die Wirtschaft wieder zu normalisieren und das Social Distancing gleichzeitig so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Diesen Spagat muss Deutschland jetzt versuchen. Wenn das passiert, möchte ich den Menschen in Deutschland raten, weiter diszipliniert zu sein. Dann ist es für die Politik einfacher, die Öffnung voran zu treiben.


Wenn man sich die Verlaufskurven in Asien anschaut, kann man sagen, dass die Ansteckungszahlen genauso schnell runtergehen, wie sie hochgegangen sind – wenn man die Beschränkungen diszipliniert durchhält. Gleichzeitig muss man darüber diskutieren, welche Maßnahmen verhältnismäßig sind und welche nicht. Aber das ist lösbar, wenn alle vernünftig bleiben. Das ist die Lehre, die man aus Asien ziehen kann.


Wichtig ist auch, dass man in dem Schrecken über die Krise einen klaren Kopf behält. Eine Gefahr hat Deutschland schon erfolgreich gebannt: Das Gesundheitssystem ist nicht zusammengebrochen. Nun müssen wir weiter nach vorne schauen. Wir haben derzeit nicht eine hohe Arbeitslosigkeit, weil es keine Arbeit mehr gibt. Die Arbeit ist sofort wieder da, wenn das Virus weg ist. Wir haben auch keinen Krieg, der Produktionen und Lieferketten nachhaltig auf Jahre hin zerstört. Wir haben auch weiterhin Konsumenten und Kunden, die einkaufen wollen, sobald es wieder geht.


Wenn es dem Staat gelingt – und das ist nun das Wichtigste – die unverschuldet in Existenznot geratenen Menschen so unterstützten, dass sie in der Lage sind, irgendwie an die Zeit vor der Krise anzuknüpfen, dann sind Aussichten gut, dass wir bald zur Normalität zurückkehren. Den Menschen, die weiterhin Geld haben, kann man nur den Rat geben, mehr denn je zu konsumieren sobald es wieder möglich ist. Das hilft der Wirtschaft sehr. Dann ist die Chance groß, dass wir in der zweiten Jahreshälfte den Spuk zügig hinter uns lassen.


Herr Sieren, vielen Dank für diese interessanten Einblicke!


Buchtipp: Frank Sieren: „Zukunft? China! Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert“, Penguin Verlag (15. Oktober 2018), ISBN-13: 978-3328106104


Frank Sieren beobachtet seit 1994 von Peking aus als Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer den Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht. Er ist der westliche Wirtschaftsjournalist, der am längsten in China lebe. In seinem aktuellen Buch beschreibt er, was China so erfolgreich macht und warum selbst Deutschland sich nun anstrengen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren. Denn China ist selbstbewusst und ehrgeizig. Dies ist für den Westen eine Chance, birgt aber auch Gefahren.